Bundesverwaltungsgericht öffnet Weg für die medizinische Verwendung von Cannabis in Deutschland

Antragsflut an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erwartet

[Pressemitteilung der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin vom 15. November 2005 zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 2005, das im November 2005 veröffentlicht wurde]


Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin begrüßt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das von gesundem Menschenverstand, einem hohen Maß an Verantwortung für das Allgemeinwohl und für das Rechtsempfinden der Bevölkerung sowie einem realitätsnahen Blick auf die Wirklichkeit zeugt, und sich damit wohltuend von einigen Stellungnahmen und Entscheidungen des Bundesgesundheitsministeriums und dem ihm unterstehenden Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) der vergangenen Jahre abhebt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Januar 2000 bestätigt, nach dem Patienten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nach Paragraph 3 des Betäubungsmittelgesetzes eine Ausnahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung sonst illegaler Cannabisprodukte erhalten können. Das BfArM hatte dieses Recht bestritten, da die Behandlung einzelner Patienten keinen im öffentlichen Interesse liegenden Zweck begründe. Im Urteil wird nicht nur das Verhalten des BfArM kritisiert, sondern auch die "Unschlüssigkeit der Argumentation", mit der die Bundesregierung ihre eigene Initiative aus dem Jahre 1999, einen Cannabisextrakt verschreibungsfähig zu machen, im Januar 2004 aufgegeben hat.

Es ist abzusehen, dass das Urteil erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Verwendung von Cannabisprodukten in Deutschland haben wird und in seiner Bedeutung alle früheren Urteile und politischen Entwicklungen übertreffen kann. Es ist davon auszugehen, dass in den kommenden Wochen und Monaten eine Vielzahl von Patienten, die von Cannabisprodukten Linderung erfahren oder sich Linderung erhoffen, Anträge auf eine Ausnahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung sonst illegaler Cannabisprodukte stellen werden. Die ACM ermuntert alle Patienten, solche Anträge zu stellen. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2000 hatte die ACM noch dazu geraten, dass nur wenige Anträge gestellt werden, die es erlauben würden, die grundsätzlichen Möglichkeiten auszuloten. Dennoch wurden mehr als 100 Anträge gestellt. Heute hat sich die Situation geändert, und es wäre politisch sinnvoll, wenn einige Tausend Anträge gestellt würden.

Das BfArM ist nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verpflichtet, jeden einzelnen Fall individuell zu prüfen, damit seine Entscheidungen in weiteren verwaltungsgerichtlichen Verfahren Bestand haben können. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass eine solche Erlaubnis "im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde" liege, was es dem BfArM ermöglicht, solche Anträge nach diesem Ermessen auch abzulehnen, allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht hier bereits einige Vorgaben gemacht. So können die Anträge nicht abgelehnt werden, weil Patienten sich vom Arzt Dronabinol verschreiben lassen können, da dieses Medikament "weder ohne weiteres verfügbar noch für den normalen Bürger erschwinglich ist", und daher keine Alternative darstelle, die "das öffentliche Interesse am Einsatz von Cannabis zur Krankheitsbekämpfung entfalten lässt". Zudem bestehe keine Erfordernis, die therapeutische Wirksamkeit nachzuweisen, wie es das Arzneimittelgesetz verlangt. Der mögliche Nutzen könne gerade bei schweren Erkrankungen auch in einer "Verbesserung des subjektiven Befindens" liegen. Das Gericht schreibt: "Bei schweren Erkrankungen ohne Aussicht auf Heilung gebietet es in diesem Rahmen die von Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes geforderte Achtung vor der körperlichen Unversehrtheit, die Möglichkeit einer Erlaubnis nach § 3 Absatz 2 Betäubungsmittelgesetz nur dann auszuschließen, wenn ein therapeutischer Nutzen keinesfalls eintreten kann."

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2005 im Lichte des aktuellen Urteils neu bewertet werden muss, da dem Verfassungsgericht das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 2005, das nun der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, bereits bekannt gewesen sein wird. Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, dass das Cannabisverbot "das grundsätzliche Verbot einer Selbstmedikation durch Cannabisprodukte" einschließe, stellt nur
die eine Seite der Medaille dar, nach der auf der anderen Seite Ausnahmegenehmigungen auf eine Selbstbehandlung vom BfArM zu erteilen sind.

Die ACM geht davon aus, dass diese Betrachtung des Betäubungsmittelgesetzes auch Auswirkungen auf das Strafrecht haben kann, wenn Personen wegen des illegalen Besitzes von Betäubungsmitteln angeklagt sind, die die Betäubungsmittel zu medizinischen Zwecken verwenden. Es muss allerdings zudem davon ausgegangen werden, dass zukünftig jeder Angeklagte sich vom Staatsanwalt und vom Strafrichter die Frage gefallen lassen muss, warum er bisher keinen Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung beim BfArM gestellt hat.

Betroffene Patienten finden einen Formulierungsvorschlag für einen Antrag an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf eine Ausnahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung sonst illegaler Cannabisprodukte auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) (www.cannabis-med.org). Jeder Antrag muss individuell und ausführlich begründet werden. Ihm sollten ärztliche Bescheinigungen und Arztberichte beigefügt werden, aus denen die Erkrankung und die bestehenden Symptome hervorgehen. Mitglieder der ACM erhalten kostenlos ausführliche gutachterliche Stellungnahmen zum therapeutischen Potenzial von Cannabisprodukten bei der jeweiligen Erkrankung beziehungsweise Symptomatik. Für Nichtmitglieder sind diese Stellungnahmen kostenpflichtig.

Insbesondere bei einer anhaltenden Untätigkeit des Bundesgesundheitsministeriums wird durch weitere verwaltungsgerichtliche Verfahren geklärt werden müssen, welche Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung erfüllt sein müssen bzw. welchen Ermessensspielraum das BfArM tatsächlich für seine Entscheidungen hat. Im Falle von Ablehnungen von Anträgen durch das BfArM ist es sinnvoll, dass nicht mehr nur einige Musterklagen vor den Verwaltungsgerichten geführt werden, sondern eine Vielzahl von Klagen.

Die Bundesregierung hat mehrere Möglichkeiten, die auch parallel verfolgt werden können, um der Situation, die durch ihre bisherige Untätigkeit verschuldet wurde, angemessen zu begegnen. Dazu zählen (1) Maßnahmen, die die Kostenübernahme einer Behandlung mit Dronabinol durch die Krankenkassen erleichtern, (2) gesetzliche Regelungen, die die Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung nach Paragraph 3 des Betäubungsmittelgesetzes zur Patientenbehandlung festlegen, beispielsweise nach dem kanadischen Modell, (3) die Abgabe von Cannabis in Apotheken nach dem niederländischen Modell, (4) eine Härtefallregelung zur Abgabe eines Cannabisextraktes nach dem katalanischen Modell in Spanien und (5) die Bereitstellung eines Cannabisextraktes, wie sie am 22. März 1999 vom Bundesgesundheitsministerium in einem Gespräch mit Vertretern der ACM, der Deutschen AIDS-Hilfe und des Schmerztherapeutischen Kolloquiums selbst vorgeschlagen worden war.

Selbstverständlich kann das Bundesgesundheitsministerium auch weiterhin untätig bleiben, so dass Straf- und Verwaltungsgerichte wie bisher die Arbeit übernehmen, die der Gesetzgeber erledigen sollte und sich weiterhin von diesen für sein Verhalten schelten lassen. Die Gerichte, das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2000, das Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 2004 und das Oberverwaltungsgericht im Jahre 2005 haben bereits das Recht zu Gunsten der betroffenen Patienten fortentwickelt und die Rechtspraxis verändert.

gez. Dr. med. Franjo Grotenhermen
Vorstandsvorsitzender
Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin e.V. (ACM)

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 2005:
www.cannabis-med.org/german/BVerwG.pdf

Formulierungsvorschlag für einen Antrag an das BfArM:
www.cannabis-med.org/german/antrag.pdf

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